DenkRäume
In Zeiten, in den das Digitale zum wichtigeren Erinnerungspunkt wird, auch wenn – dank Blockchaintechnik – selbst die Kunst wieder eine Dauerhaftigkeit zurückerobert, scheint es verwegen das Buch als Brennpunkt gedanklicher Dokumentation zu identifizieren. Noch viel weniger, wenn sich der Anknüpfungspunkt als Ruf aus vergangenen Jahrhunderten geriert.
Baltasar Gracian Oráculo Manual y Arte de Prudencia (Handorakel und Kunst der Weltklugheit) entstand in den Jahren 1601 – 1658, erstmals publiziert 1647. Der 30jährige Krieg wütet in Europa, Grácian – der Jesuit – wird intellektuell an den nur vordergründig religiösen Auseinandersetzungen teilgenommen haben, aber er bemühte sich auch als Prediger und Theologe. Dafür war er bekannt. Und als solcher, so lassen die Handorakelsprüche vermuten, eher im Sinne eines pragmatischen Rufers an den menschlichen Intellekt tätig.
Er war nicht der Erste, sicher auch nicht der Letzte. Das I Ging [1] – die eher mystische Variante – , die Aphorismen des Sokrates [2] – mit echter Anleitung für das tägliche Leben – oder der Ansatz von Popper über das Leben als Problemlösung, schlagen einen Bogen. Das Erstaunliche: die Gedanken sind nicht verbraucht, kein alter Hut, kein alter Wein. Nutzt man die Denkräume und wendet sie auf die neue Zeit an, so ergibt sich eben dieses: Erstaunen. Und Erstaunen nicht nur in den Inhalten sondern auch in den Wirkungen. Exemplarisch hierfür ist das Weitertragen des Interesses an den Grundlagen durch den Hispanisten Werner Krauss, der die Perzeption zukünftiger Leser, (mit-)vermittelte. Dessen Beschäftigung mit der Lebenslehre auch eine Stärkung seines eigenen Lebenswillens bedeutet haben mag.
Als er nach dem Krieg in einer „Vorbemerkung“ zu seiner Buchausgabe über Garcián darüber schrieb, dass „.. diese Arbeit .. 1943 unter besonderen Verhältnissen geschrieben ..(wurde und ) .. Der Verfasser ..().. auf die ihm von wohlgesinnter Seite zur Verfügung gestellte Gracián Ausgaben angewiesen ..(war). Sekundärliteratur war ihm nicht zugänglich [Krauss (2003), S.7], verwies er auf die Tatsache, dass er 20-Monate in Haft, anfänglich in der Todeszelle, des Berliner Gefängnisses Plötzensee (bis September 1944) saß. Ende 1942 war er, der als Übersetzer in einer Kompanie in Berlin verpflichtet worden war, mit seiner sechzehn Jahre jüngeren Geliebten Ursula Götze wegen antinazistischer Propaganda verhaftet und zum Tode verurteilt. Götze wurde 1943 enthauptet, Krauss überlebte weil prominente Kollegen eine Umwandlung der Todes- in eine 5-jährige Haftstrafe erreichten.
Es ist wohl nicht falsch hier eine Parallelität der Lebensweisheiten in prekären Situationen wie sie Gracián behandelte und der besonderen Situation von W. Krauss zu erkennen.[3]
Schopenhauer hatte im 19. Jahrhundert, ebenso wie Nietsche, die über das Handorakel geschrieben haben, das Orakel auch übersetzt. Krause hat die Übertragung vielleicht am intuitivsten praktiziert und damit die Aufforderung an den nachmaligen Leser verbunden sich der DenkArbeit, wie sie Gracián forderte, zu unterziehen.
Dazu wollen wir ein, zwei Ausführung als exemplarischen Beleg bieten. Vielleicht anregen sich mit dem Original oder einer Übersetzung zu beschäftigten. Textlich liegt dem die Übersetzung von H.U.Gumbrecht zu Grunde.
Sich Gedanken machen, nicht dem Trend zu folgen. Fragen auf das eigene Leben herunterbrechen und aus dem eigenen NachDenken ein VorDenken zu entwickeln, das den eigenen Entscheidungen, der Familie und schlussendlich der Gesellschaft eine Richtschnur bieten kann. Das war im 17. Jahrhundert vielleicht eher die Position zur Reformation, ist heute bei den großen und übergreifenden Themen die Klimafrage[4], aber die Dogmatisierung von Positionen in der Gesellschaft (von Anarchie über Gender bis zur narzisstischen Selbstverwirklichung) weist immer häufiger auf die Dummheit im Menschen, der aus dem Beharren auf seine gefundene – oder anerzogene – Lebenseinstellung eine Beschäftigung mit den Problemen und denkbaren Lösungen verzichtet. Wie klingt da der Rat „mit aller Bemühung ..in die Tiefe seines Geistes ..“ vorzudringen, den Widerstand des Denkens zu überwinden und dadurch in einen Bereich vorzudringen, in dem er allein auf Grund von Betrachtungen des äußeren nicht gelangen könnte. |
Sich Gedanken machen. Und zwar mehr zu dem, was am wichtigsten ist, weil Sie nicht denken, gehen alle Dummen unter: sie begreifen die Dinge nicht mal zur Hälfte; und weil sie den Schaden oder den Vorteil nicht wahrnehmen, bemühen sie sich auch nicht. Manche legen Wert auf das was wenig, keiner auf das was große Bedeutung hat, weil sie immer verkehrt abwägen. Manche verlieren den Verstand nicht , weil sie keinen haben. Dinge gibt es die man mit aller Bemühung betrachten und in der Tiefe seines Geistes bewahren sollte. Der Kluge macht sich über alles Gedanken, aber dort gräbt er am meisten, wo es Grund und Widerstand gibt; und er denkt vielleicht, das da mehr ist, als er denkt; so kommt sein Nachdenken dorthin, wo seine Wahrnehmung nie hin kam. [Gracián, Baltasar Handorakel und Kunst der Weltklugheit Nr. 35 S. 30 Ausgabe H.U.Gumbrecht, Reclam] |
Ob die Lösung des Klimaschutzes in einer e-Mobilität, Wasserstoff-Antrieben oder „nur“ dem Verbot des Verbrenners liegt, wird man nicht pauschal beantworten können. Die Sichtweise des Mitteleuropäers divergiert hier schon von denen des Südeuropäers, weil seine Umfeldbedingungen divergieren. Um wieviel mehr ist die Versorgungsfrage in Afrika, Indien oder China zu hinterfragen. Respekt mit der Position des anderen gehört zum Werkzeugkasten des sich darum Bemühens. Den Ausgleich zwischen den Fragestellungen und den Lösungsmöglichkeiten zu finden.
Der revoltierende Bürger hat nicht alle Rechte, hat nicht alles Wissen. Die Macht der Entscheider aber ebenso wenig.
Warum ein Projekt wie der Versuch Solaranlagen in der Wüste zu generieren um Strom in die Industriestaaten zu leiten nicht die Bedeutung erlangte und fast unbekannt ist, wäre lohnenswert zu hinterfragen. Vielleicht fände sich dann eine Wahrnehmung der Lösung – im Sinne von Gracián oder Popper oder des denkenden sich um Lösungen bemühenden Menschen – .
Man muss wohl Dumme (auch sich selbst, so viel Demut muss sein) aushalten können. Nicht hinnehmen, sondern das Wissen bei sich und den anderen Vermehrung. Wenn daraus die Ungeduld erwächst ist das ein Zeichen von beginnender Weisheit, den wer viel weiß ist schwer zufrieden zu stellen. Epiktet hat es als eine der herausragenden Aufgaben im Leben bezeichnet, dass man etwas Aushalten kann. Darauf führt er einen wichtigen Teil der Weisheit zurück. Manchmal irritieren uns diejenigen denen wir vertrauen, denen wir uns verpflichtet fühlen in einem hohen Maß, Aber aus dem Aushalten-Können und auch der Positionierung unserer anderen Meinung (so sie denn auf selbständiger Beschäftigung mit den Fragen beruht) erwächst das Potential der gemeinsamen Veränderung und des gemeinsamen Friedens. Was im Ergebnis ein eigenes und ein gemeinsames Glück bedeutet. Kann man es nicht Aushalten, findet man keinen Weg der Überzeugung in der Gemeinschaft, ist der Rückzug eine letzte Bastion. Eine Bastion die zurückschlägt, wenn Sie die Gemeinschaft in die stasis[5] führt. Gesellschaftliche Entwicklungen die Lebensbereiche des Einzelnen retrograd berühren[6]. In diesem Sinne äußert sich Gracián, wenn er davon spricht, dass es wichtig ist „Dumme aushalten (zu) können“ [Garcian, Nr. 159 S. 96 a.a.O..
Aber vielleicht kommt man auch irgendwie zu der Erkenntnis,
das der Mensch für dieses Leben nicht schlau genug ist.
Und wer glaubt das sei nur eine philosophische Frage der Lebensführung, keine der Führung, der Unternehmensgestaltung, dem sei angetragen sich in die Tiefen dieser Frage zu ergehen: die Erkenntnisse werden dann um so überraschender sein.
Zum Schluss noch unser Dank an Martin S. der uns durch seine Dotation eines Exemplars des Gracián auf diese interessante Lektüre hingewiesen hat.
[1] Heute in Pinyin auch“ Yijing“ oder 易經 / 易经
[2] Zurückgehend auf die Stoa des Xenon (oder Zenon) unter deren Ratschläge zur Lebensführung
[3] Krauss hat Fragen zu seinen antinazistischen Aktivitäten nie beantwortet.
[4] Übrigens eine, die in den Veröffentlichungen des Club of Rome schon in den 70er dokumentiert und aufgezeigt wurde, die nur zögerlich angegangen zur Zeit durch Aktivitäten wie die von Fridays for future an Geschwindigkeit gewinnt.
[5] στάσις (stásis) „Stehen, Stillstand“
[6] Man mag da an die Überlegungen von Spengler [Untergang des Abendlandes] erinnert sein, wenn die Hochkultur sich wieder dem Fellachentum – gemeint ist die Singularisierung von Aufgaben, die besser gemeinschaftlich betrieben werden – annähert, also die Hochkultur als organisatorisch und emanzipatorischen Zielpunkt verlässt